Anhang C
Christus zieht triumphal in Jerusalem ein. Die Scharen der jubelnden Menschen – insbesondere derer, die gehört hatten, dass er einige Tage zuvor Lazarus von den Toten auferweckt hatte – halten Palmzweige in den Händen und rufen: „Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn“.
„Die ganze Stadt geriet in Aufregung“, schreibt Matthäus, und man fragte: „Wer ist das?“ (Мt. 21, 10). Nach seinem Einzug in Jerusalem besucht Jesus den Tempel, wo er die Tische der Händler und Verkäufer umstößt, sie aus dem Tempel treibt und den Hohenpriestern vorwirft, das Haus seines Vaters zu einer Räuberhöhle gemacht zu haben.
Großer Mittwoch, der 1. April 33 n.Chr.
Christus gibt das Haus der Juden,320 d.h. den Tempel von Jerusalem, der geistigen Verödung preis. Auf diese Weise wird, wie der Hl. Kyrill von Alexandrien aufzeigt, die Prophezeiung von Jeremias erfüllt: „Ich habe mein Haus verlassen, mein Erbe verstoßen, was meine Seele liebte, übergab ich den Händen meiner Feinde“ (Jeremias 12, 8).
Wie Kyrill sagt, hat das Wort Christi: „Seht, euer Haus wird verlassen, um verwüstet zu werden“ eine doppelte Bedeutung: Erstens, dass „die göttliche Gnade sich vom Geschlecht der Juden zurückzieht“, und zweitens, dass von jetzt an „der Tempel vernichtet ist“ (ἐρειπωθὲν τελείως τὸ τέμενος).321 Kyrill vergleicht den Tempel mit einer geistigen Ruine. Und in einem weiteren seiner Werke, wo er dieselbe Rede Jesu deutet, sagt er: „Der Tempel war ganz verseucht, wie auch die Synagoge der Christusmordenden Juden, denn durch sie wurde der Retter getötet. Damals haben sie sich durch den Mord an Ihm vollkommen verseucht“.322
Kyrill beschreibt den Tempel von Jerusalem als eine geistige Ruine und als einen Infektionsherd. Der Tempel von Jerusalem, als Ort der Verehrung Gottes, gehört nunmehr zur Vergangenheit. Es gibt ihn nur noch als Gebäude. Aber nicht als geistigen Ort der Verehrung. Den hat der Sohn Gottes mit einem einzigen Satz abgeschafft. Und unmittelbar danach verlässt Jesus diesen Tempel zum letzten Mal.
Und im Moment seines Hinausgehens, unmittelbar nach der Ankündigung der geistigen Verödung des Tempels, prophezeit er auch seine materielle Vernichtung, indem er sagt: „Seht ihr all das? Wahrlich, ich sage euch, kein Stein wird hier auf dem anderen bleiben, der nicht weggerissen wird“323 – eine Tatsache, die sich 70 n.Chr. ereignete, als der römische Feldherr Titus die Stadt dem Erdboden gleichmachte.
Dieses konkrete Paschafest ist, wie Johannes Chrysostomos schreibt, schon ein gesetzloses Fest, weil die Juden „den Krieg gegen Gott predigten“, aber es ist auch ein Fest, das bereits abgeschafft ist, ein nicht existierendes Fest, denn an seiner Stelle wird das neue geistliche Ostern eingeweiht, das Christus darbietet.324 Der Sohn Gottes verlässt den Tempel von Jerusalem in Verödung, wie auch das hebräische Osterfest, weil Er selbst, mit Seinem Opfer, ein neues Ostern schafft. „Und nicht nur, dass er ein neues Ostern erschaffen wird“, sagt Johannes Chrysostomos, „sondern er Selbst wird Ostern sein“.325
Aus genau diesem Grund feiert Er am nächsten Tag, dem Großen Donnerstag (am 13. des Monats Nissan), das österliche Mahl 24 Stunden vor der angesetzten Zeit, die durch das jüdische Gesetz festgelegt wird.326 Nur dass bei diesem Abendmahl nicht das vorgesehene gebratene Lamm gereicht wird, nicht das übliche Osterlamm, sondern Er selbst sich anbietet, das Lamm Gottes. Der Sohn Gottes selbst wird Darbietender und Dargebotener. Denn bei diesem Ostermahl bietet er dem Menschengeschlecht zum ersten Mal seine Heiligen Geschenke an, die furchterregenden Mysterien, Seinen Leib und Sein Blut.
Großer Donnerstag, der 2. April 33 n.Chr.
Am Abend des Großen Donnerstags wird das Letzte Abendmahl327 gefeiert, und später, in derselben Nacht, wird Christus von Judas verraten und übergibt sich in die Hände der Juden. Zur Stunde des Letzten Abendmahles hat, wie wir sagten, der Gottmensch sein Selbst als die wahre Speise des Menschen dargeboten. Der Evangelist Lukas schreibt:
Nach Johannes Chrysostomos „wurde Christus Selbst sowohl Opfer wie Priester; Opfer nämlich nach dem Fleische, Priester aber nach dem Geiste“.329 Das Martyrium der Kreuzigung dauert sechs Stunden und „das Opfer nach dem Fleische“ ist um 15 Uhr am Mittag vollendet, als der Gottmensch mit seinem letzten Atemzug am Kreuze ruft: „Es ist vollbracht“.
Warum aber geschah das Opfer Christi zu dieser Stunde?
Nach jüdischer Tradition und Geschichte fand am Vortag des jüdischen Paschafestes das Opfern der Lämmer statt – ein Opfer von zehntausenden von Schafen, die für das Ostermahl bestimmt waren.330
Das Schlachten der Lämmer, und gleich anschließend das Reinigen und Braten, begann am Mittag des Vortages vor Pascha, sodass das österliche Mahl rechtzeitig fertig war nach Sonnenuntergang. Dieses Mahl war nicht nur für die Bewohner der Stadt bestimmt, sondern für das gesamte hebräische Volk, für hunderttausende Juden, die aus allen Teilen Judäas oder aus der Diaspora nach Jerusalem kamen.331
Nach dem jüdischen Philosophen Philon von Alexandria, der ein Zeitgenosse Jesu war, begann das Schlachten der Lämmer am Mittag des Vortages vor Ostern, am 14. Tag des Monats Nissan, und dauerte bis zum Abend.332 Dasselbe bestätigt der jüdische Historiker Josephus – 37 n.Chr. geboren – der noch konkreter beschreibt, dass das Opfer der Osterlämmer zur 9. Stunde am Mittag des Vortags von Pascha begann.333
Das bedeutet, dass um 15 Uhr am Freitagmittag, genau zu der Stunde, wo die Hebräer ihr erstes Osterlamm im Vorhof des Tempels opferten, sie auch das Lamm Gottes auf dem Felsen von Golgatha opferten.
Im ersten Falle war die Opferstätte für das Schlachten der Lämmer der spezielle Altar, den es im Vorhof des Tempels von Jerusalem gab. Im zweiten Fall war die Opferstätte für das Schlachten des Lammes Gottes das Heilige Kreuz. Zur Stunde, wo das erste Opferlamm auf dem Altar starb, zur selben Stunde starb das Lamm Gottes am Heiligen Holz. Und so erfüllte sich die Prophezeiung von Jesaja:
Er hat unsere Sünden getragen und unsere Schmerzen erduldet … Sie haben ihn misshandelt, doch er öffnete nicht seinen Mund. Er wurde wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt, und wie das Lamm vor dem Scherer verstummt, öffnete er nicht seinen Mund. (Jes 53, 4-7)
Gleich nach der Schlachtung des Lammes Gottes auf dem Felsen von Golgatha, nach sechs entsetzlichen Schmerzensstunden, steigt die Seele des Gottmenschen, vereint mit Seiner Gottheit, hinab in den Hades, während sein Leib, auch dieser vereint mit Seiner Gottheit, noch etwa fünf Stunden ans Kreuz genagelt verbleibt.
Der Große Freitagabend
Am Abend des Großen Freitags, zu der Stunde, als das hebräische Osterfest nach Sonnenuntergang begann, nahm Joseph von Arimathäa den Leib Christi vom Kreuz ab und begrub ihn in seinem eigenen Grab, sehr schnell, weil die Nacht schon einfiel. Der Leib des Gottmenschen wird in diesem Grab den vollen Kalendertag vom Sabbat verbleiben, von Abend bis Abend.
Die Gefühle, die in jener Nacht der Grablegung des Herrn herrschen, sind sehr sonderbar gemischt: zum einen die Freude der Hebräer, die ihr Pascha feiern, zum anderen die Trauer der Jünger und Anhänger Christi, die ihren Herrn beweinen.
Die jüdischen Hohenpriester wollten nicht, dass Jesus nach Sonnenuntergang zu Grabe gelegt wurde, denn eine Grablegung am Tag von Pascha galt als eine Handlung höchster Entweihung, als Sakrileg. Aber sie konnten es nicht verhindern. Die Grablegung von Jesus fand nach Sonnenuntergang statt, gerade nach Beginn des jüdischen Osterfestes, das auf diese Weise der höchsten Schändung und Vernichtung anheim fiel. So wie auch der Tempel der Stadt der höchsten Vernichtung anheim fiel.
Die Hohenpriester begehen mit ihrer Entscheidung, den Sohn Gottes zu töten und zu begraben die allergrößte Schmähung gegenüber dem Angesicht Gottes, und sie schänden auf diese Weise das Haus Gottes wie ihr Paschafest. Aus diesem Grund werden sie von Gott verlassen und der Verwüstung überlassen.
Und weil das jüdische Paschafest und der Tempel der geistigen Verwüstung anheim gegeben werden, wird der auferstandene Christus wenige Stunden später ein neues Ostern und einen neuen Tempel erschaffen. Das neue Ostern wird das Fest Seiner Auferstehung sein, und der neue Tempel wird Sein auferstandener Leib sein.
Jesus antwortete ihnen: „Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“. Da sagten die Juden: „Sechsundvierzig Jahre ist an diesem Tempel gebaut worden, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten?“ Er aber sprach von dem Tempel seines Leibes. Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich die Jünger, dass er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte. (Joh. 2, 19-22)
320. Eusebius von Caesarea sagt, dass das Wort „Haus“ sich nicht auf die Stadt bezieht, sondern auf ihren Tempel. Vgl. Eusebius, Predigt zur Theophanie, Abschnitt 12.
321. Kyrill von Alexandria, „Matthäus-Kommentare aus der griechischen Kirche“, Berlin 1957, Abschnitt 265.
322. Kyrill von Alexandria, Glaphyra (Deutungen zum Pentateuch), PG 69, 633: „Οἶκος μὲν οὖν μεμιασμένος, ἡ Συναγωγὴ τῶν κυριοκτόνων Ἰουδαίων, τεθνεῶτος ἐν αὐτοῖς τοῦ Σωτῆρος· ὅτε καὶ μᾶλλον ἐμιάνθησαν τῷ φόνῳ αὐτοῦ“.
323. Matthäus 24, 2.
324. Johannes Chrysostomos, Über den Verrat von Judas, PG 49, 380: „Hast du ihre Unbarmherzigkeit gesehen? Hast du ihre Gesetzlosigkeit gesehen? Ohne dass sie irgendjemand veranlasst, predigen sie den Krieg gegen Gott. Siehst du, wie unrein die ungesäuerten [Brote] sind? Dass ihr Fest gesetzlos ist? Dass es kein jüdisches Osterfest mehr gibt? Früher gab es ein jüdisches Ostern, aber jetzt wurde es abgeschafft, und es kam das geistige Ostern, das Christus darbot“.
325. Ebd.
326. Nach dem jüdischen Gesetz wird das Ostermahl an dem Abend vor Ostern (am 14. des Monats Nissan) gefeiert, nach Sonnenuntergang.
327. Im Evangelium von Markus (14,7) wird gesagt, dass das Letzte Abendmahl begann, als es Abend wurde. Im Evangelium von Johannes heißt es, dass das Letzte Abendmahl „vor dem Osterfest“ stattfand, d.h., am Abend des Großen Donnerstag nach Sonnenuntergang (was bedeutet, dass kalendermäßig soeben der Vortag vor Ostern begonnen hatte, der 14. Tag des Monats Nissan).
328. Zur Berechnung der Kreuzigung Christi siehe S. 9, Anm. 1.
329. Johannes Chrysostomos, Über das Kreuz und die Beichte des Räubers, PG 49, 408.
330. In manchen Jahren war die Zahl der Opferlämmer übermäßig groß. König Josia hatte im 18. Jahr seiner Regentschaft für das Paschafest 30.000 Schaft und Ziegen zur Opferung gespendet. Vgl. 2. Chronik 35,7.
331. Das Paschafest durfte nur in Jerusalem gefeiert werden. Daher kamen hunderttausende Juden an jenem Tag in die Stadt. Josephus gibt an, dass zu jedem Paschafest „eine unzählige Menge von Menschen“ nach Jerusalem strömte. Vgl. Josephus, Geschichte des jüdischen Krieges, 2.10.
332. Philon erwähnt, dass am Tag vor Pascha „unter Beteiligung des ganzen Volkes zigtausende Tiere von Mittag bis Abend geopfert wurden“. Vgl. Philon von Alexandria, De specialibus legibus, 2, 145, Berlin: Reimer, 1906.
333. Josephus, Jüdische Kriege, 6, 423, Berlin: Weidmann, 1895: „Für das Fest Pascha wurde ab der neunten bis zur elften Stunde geopfert“.
334. Gregor von Nazianz, Rede zum Heiligen Osterfest, PG 36, 660.
335. Nikodemus der Hagiorit, Geistliche Übungen, Venedig, 1800, S. 386.
336. Matthäus 13, 43.